Wie viel Strom braucht Deutschland für seine Energiewende?

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Deutschland will klimaneutral werden. Die große Frage ist, wie viel Wind- und Solarenergie dafür zusätzlich benötigt wird. Doch wie viel Strom das Land im nächsten Jahrzehnt tatsächlich braucht, ist schwer zu sagen.

Deutschland will mehr für den Schutz der Umwelt tun. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im März kündigte die Regierung an, dass die CO2-Emissionen bis 2030 um 65% gegenüber 1990 reduziert werden sollen und nicht wie ursprünglich geplant um 55%. Um dieses Ziel zu erreichen, wird mehr Strom aus erneuerbaren Quellen benötigt als bisher geplant.

Das Ziel klingt anspruchsvoll, und wie immer steckt der Teufel im Detail. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Wind- und Solarkapazitäten weiter auf- und ausgebaut werden. Wie viel mehr, hängt von den Schätzungen für den Stromverbrauch im Jahr 2030 ab.

Bislang geht das Bundeswirtschaftsministerium davon aus, dass sich der Stromverbrauch in den nächsten neun Jahren nicht wesentlich verändert und bei rund 580 Terawattstunden (TWh) bleibt. Ein Blick zurück scheint dies zu bestätigen.

„In den letzten 10 oder 20 Jahren war der Stromverbrauch relativ konstant“, sagt Johannes Wagner vom Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) an der Universität Köln. „Wir hatten über einen langen Zeitraum einen Bruttostromverbrauch von rund 600 Terawattstunden. Erst im Jahr 2020 ist er aufgrund der Auswirkungen des Coronavirus stark gesunken.“

Braucht Deutschland im Jahr 2030 mehr Strom?

Doch was in der Vergangenheit galt, muss nicht unbedingt auch für die Zukunft gelten. Verschiedene Experten gehen davon aus, dass die Planungen der Regierung zu zurückhaltend sind. Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Olaf Scholz kritisierte sie kürzlich. „Wer behauptet, dass der Stromverbrauch bis 2030 gleich bleibt, belügt sich und das Land“, sagte er.

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Was ist, wenn der Stromverbrauch nicht gleich bleibt? Was, wenn er steigt? Was, wenn er stark ansteigt? Das ist das Szenario, von dem verschiedene Energieexperten ausgehen.

„Die Expertenkommission zur Begleitung der Energiewende, der ich angehöre, schätzt, dass der Stromverbrauch deutlich höher sein wird, als die Regierung glaubt“, sagt Veronika Grimm gegenüber der DW. „Wir kommen auf rund 650 Terawattstunden und liegen damit noch am unteren Ende des Spektrums“, sagte sie.

Die auf Energie spezialisierte Denkfabrik Agora Energiewende spricht ebenfalls von 650 Terawattstunden Stromverbrauch im Jahr 2030. Das EWI in Köln schätzt, dass dann 685 Terawattstunden benötigt werden.

Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) beziffert ihn auf 745 Terawattstunden und das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) rechnet mit einem Stromverbrauch von 780 Terawattstunden im Jahr 2030. Das sind 70 bis 200 Terawattstunden mehr als von der Regierung prognostiziert.

Mobilitätskonzepte brauchen viel Strom

Mehr Strom wird nach Ansicht der Experten vor allem wegen des Umstiegs auf E-Mobilität und der Tatsache, dass Gebäude anders beheizt werden, benötigt werden. Gleichzeitig werden sich die Hersteller von fossilen Brennstoffen abwenden und auf synthetische Energieträger wie Wasserstoff umsteigen. Aber auch für die Produktion von grünem Wasserstoff wird Strom benötigt.

Dem gegenüber stehen Effizienzgewinne, die den Stromverbrauch reduzieren. Hier hat sich die Regierung das Ziel gesetzt, den Stromverbrauch bis 2050 durch mehr Energieeffizienz um 25 % gegenüber 2008 zu senken.

Allerdings können diese Effizienzgewinne den zusätzlichen Strombedarf nicht kompensieren, sagen die Experten. Zudem werden große Effizienzpotenziale noch nicht systematisch genutzt, obwohl solche Technologien bereits verfügbar sind, so die Recherchen von Agora Energiewende.

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Energieeffizient zu sein, reicht nicht aus

Wie viele neue Windräder und Photovoltaikanlagen Deutschland braucht, hängt davon ab, wie sich sein Bedarf an Strom entwickelt. Legt man die relativ niedrige Schätzung von Agora Energiewende für 2030 zugrunde, müsste Deutschland jedes Jahr rund 10 Gigawatt Solarstrom, 1,7 Gigawatt Wind an Land und vier bis fünf Gigawatt Windkraft auf See zubauen.

„Das ist in etwa vergleichbar mit dem, was wir in den letzten Jahren hatten, in den Jahren des Rekordzubaus“, sagt Mara Kleiner von Agora Energiewende. „Es ist also machbar.“

Allerdings liegt das aktuelle Wachstum sowohl bei der Photovoltaik als auch bei der Windenergie unter diesen Höchstständen. Es müsse also mehr Schwung in die Sache kommen, so Kleiner.

Auch Veronika Grimm glaubt, dass es eine Herausforderung sein wird, den Ausbau der erneuerbaren Energien deutlich zu beschleunigen. Gerade bei der Onshore-Windenergie gebe es immer wieder Proteste von Anwohnern.

„Deshalb müssen wir uns noch mehr auf den Offshore-Ausbau konzentrieren“, so Grimm. Aber auch das ist nicht unproblematisch, denn es müssten neue Stromtrassen quer durch Deutschland gebaut werden – was ebenfalls oft auf Widerstand stößt.“

Es kann nur in Zusammenarbeit funktionieren

Und das wird wohl auch nicht alleine funktionieren. „Derzeit exportiert Deutschland Strom ins Ausland“, betonte Wagner vom EWI. „Mittelfristig ist damit zu rechnen, dass Deutschland erstmals zum Nettoimporteur wird.“

Ein Beispiel ist das verarbeitende Gewerbe. Hier glaubt Grimm, dass die Produktion von grünem Wasserstoff nicht schnell genug hochgefahren werden kann. „Wir müssen uns gleichzeitig auf den Import von grünem Wasserstoff einstellen“, sagte sie. Es gibt bereits verschiedene Projekte mit Marokko, Chile, Australien und einigen EU-Ländern. Darüber hinaus soll in einer Übergangsphase auch blauer Wasserstoff eingesetzt werden. Blauer Wasserstoff ist Wasserstoff, der aus Erdgas hergestellt wird, wobei CO2-Emissionen abgefangen und gespeichert werden.

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Doch erst einmal muss die Bundesregierung den künftigen Strombedarf des Landes neu berechnen. Inzwischen hält selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel die bisherigen Annahmen, dass der Strombedarf nicht steigen wird, für „wahrscheinlich nicht zukunftssicher“.

Es wird erwartet, dass die Europäische Union im Juli neue Regeln für den Klimaschutz aufstellt. Dann müssen alle EU-Länder ihre eigenen Maßnahmen anpassen, um die Regeln einzuhalten, die möglicherweise viel strenger sind als bisher.

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